Asylsuchende aus Afghanistan brauchen grosszügige und humane Entscheidungen

Für Frauen und Mädchen, die aus Afghanistan geflüchtet sind, kündigte das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Juli 2023 eine Praxisänderung an. Nach einer Einzelfallprüfung ihres Gesuchs könnte ihnen Asyl gewährt werden. Das ist eine gute Neuigkeit. Aber reicht dies aus?

Lucia della Torre, Juristin

Die deutliche und kontinuierliche Verschlechterung der Situation von Mädchen und Frauen in Afghanistan war eine der ersten Auswirkungen der neuen Taliban-Regierung nach ihrer Machtergreifung im August 2021. So dürfen Frauen in Afghanistan ohne männliche Begleitung nicht reisen – weder innerhalb des eigenen Landes noch ins Ausland. Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen. Frauen dürfen nicht arbeiten und kein eigenes Vermögen besitzen. Sie können jederzeit und mit jedem von ihrer Familie auserwählten Mann verheiratet werden. Und sie werden zu einem Objekt degradiert, das weder Rechte noch eine Stimme hat.

Europa hat dies zur Kenntnis genommen. Dänemark, Schweden und Finnland haben erklärt, sie würden allen Frauen, jungen Mädchen und Kindern aus Afghanistan Asyl gewähren, die insbesondere aufgrund ihres Geschlechts Schutz suchten, da sie genau aus diesem Grund verfolgt werden. Auch die Schweiz hat ihre Praxis angepasst. In diesem Sommer hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) erklärt, dass afghanische Frauen und Mädchen in der Schweiz vorbehaltlich der Einzelfallprüfung ihres Gesuchs Anspruch auf Asyl hätten. Zudem könnten alle weiblichen Personen, die bereits in der Schweiz vorläufig aufgenommen worden waren, ein erneutes Asylgesuch stellen und damit auf einen günstigeren Entscheid hoffen. Diese Praxisänderung wird von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) ausdrücklich begrüsst, denn auf diese Weise wird die afghanische Realität berücksichtigt. Zudem passt sich die Schweiz an den grosszügigen Ländern an, die diese gezielte Schutzmassnahme bereits unterstützt und umgesetzt haben.

Doch dies ist die einzige von der Bundesverwaltung umgesetzte Massnahme, welche die Lage in Afghanistan tatsächlich berücksichtigt und sich konsequent an diese anpasst. In anderen Fällen wendet die Verwaltung bei Schutzgesuchen weiterhin willkürlich und wenig nachvollziehbar Beurteilungskriterien mit einer Strenge an, die jede Möglichkeit der Asylgewährung illusorisch macht.

Das ist keinesfalls ausreichend

Ein aussagekräftiges Beispiel ist das Verfolgungsrisiko für Familienangehörige, die vor der Machtübernahme durch die Taliban für die Regierung gearbeitet haben. Dabei handelt es sich um Brüder, Schwestern, Väter und Mütter von Richtern, Staatsanwälten und Politikern, aber auch von Soldaten, Polizisten, Dolmetschern, einfachen Tischlern oder Maurern, die mit der Regierung von Aschraf Ghani oder mit der internationalen Koalition zusammengearbeitet haben. Internationalen Berichten zufolge geraten diese Familien ins Visier der Taliban, zum Teil einfach als Bestrafung oder aus Rache. Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) anerkennt grundsätzlich das bestehende Risiko, gesucht, festgenommen und getötet zu werden, weil Familienmitglieder und ihre Angehörigen von den Taliban als Staatsfeinde angesehen werden. In der Praxis reicht dies jedoch keinesfalls für eine Asylgewährung aus. Dem Bruder einer nach der Machtübernahme der Taliban verschwundenen Krankenschwester, der von den Taliban festgenommen und zehn Tage lang festgehalten, geschlagen, misshandelt und über den Aufenthaltsort seiner Schwester verhört worden war, wurde kein Asyl gewährt, weil nicht die Absicht bestand, ihn zu töten, sondern ihn lediglich einzuschüchtern. Dem Sohn eines von den Taliban getöteten Informanten der afghanischen Sicherheitskräfte, dessen Bruder durch eine Mine vor dem Haus der Familie schwer verletzt worden war, wurde kein Asyl gewährt, weil er nicht nachweisen konnte, dass der Anschlag gegen das Haus der Familie nicht nur blosser Zufall war. Es gibt noch weitere Beispiele.

Das Risiko für minderjährige Personen, von den Taliban oder anderen Konfliktparteien zwangsrekrutiert zu werden, bleibt ein ungelöstes Problem. Die offizielle Stellungnahme der Verwaltung lautet, dieses Risiko sei nicht existent, da die Taliban seit der Machtergreifung verstärkt daran interessiert wären, erwachsene und erfahrene Kämpfer zu rekrutieren statt junger Anfänger. Doch es gibt Berichte, die das Gegenteil beweisen. Zudem wurde in einem Urteil des BVGer im letzten Jahr ausdrücklich anerkannt, dass Jugendliche Opfer von Zwangsrekrutierung durch Milizen werden können, die dem Widerstand gegen die Taliban angehören. Andere Urteile haben in ihren Begründungen darauf hingewiesen, dass auch für Jugendliche das Risiko besteht, von den Taliban rekrutiert zu werden. Die Sache ist also noch nicht abgeschlossen, auch nicht beim BVGer.

Schutz ist keine Asylgewährung

Laut Asylstatistik des SEM für das Jahr 2022 waren Afghaninnen und Afghanen bei weitem die grösste Gruppe der Asylsuchenden in der Schweiz. Die Statistik zeigt ebenfalls, dass die ihnen gewährte Schutzquote sehr hoch ist und bei rund 73 Prozent liegt. Die hohe Schutzquote ist sicherlich zu begrüssen, lässt sich aber leicht erklären: Zahlreiche afghanische Personen erhalten lediglich den F-Ausweis, werden also nur vorläufig aufgenommen. Die vorläufige Aufnahme ist immer dann zu gewähren, wenn die Wegweisung einer Person in ihr Herkunftsland aufgrund eines Kriegs oder einer gefährlichen Sicherheitslage nicht möglich ist. Auf die zunächst empfundene Erleichterung folgt schnell Enttäuschung. Wie die SFH mehrfach angemerkt hat, gilt der F-Ausweis vorläufig und gefährdet die Integration in die Schweizer Gesellschaft: Es ist deutlich schwieriger, Arbeit zu finden; der Familiennachzug dauert länger und ist komplizierter; und Umsiedelungen in Europa sind nahezu unmöglich. Afghaninnen erhalten seltener einen B-Ausweis.

Betrachtet man die Asylgewährungsquote, also den Erhalt eines B-Ausweises, stellt sich die Situation tatsächlich anders dar: Im Jahr 2022 wurde nur 12,4 Prozent aller asylsuchenden Personen aus Afghanistan Asyl gewährt. Diese Quote liegt deutlich unter der oben erwähnten Schutzquote. Dies ist auf die äusserst restriktive Verwaltungs- und Rechtspraxis zurückzuführen, wie die zuvor dargelegten Beispiele zeigen.

Mehr und besser machen

Asylsuchende müssen den Sachverhalt glaubhaft darstellen, und dieser muss der inneren Logik der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechen, wobei auch ungewöhnliche Szenarien berücksichtigt werden müssen. Allerdings kommt es in der Praxis häufig vor, dass die Beurteilungen der Glaubwürdigkeit bei afghanischen Asylsuchenden extrem streng sind. In einigen Fällen hängen diese Beurteilungen von den kulturellen Unterschieden zwischen der Schweiz und Afghanistan ab: So ist zum Beispiel das Geburtsdatum einer Person in Afghanistan nicht so wichtig; eine Frau kennt möglicherweise nicht die Einzelheiten ihrer Hochzeit, weil diese Entscheidungen nicht von ihr, sondern von den männlichen Verwandten getroffen werden, usw. In einigen Fällen wurden diese Einschätzungen vom BVGer korrigiert. Dieses teilweise fast schon systematische Misstrauen gegenüber dem Vorbringen der Fluchtgründe zeigt sich auch in zahlreichen anderen Fällen und beeinflusst die Entscheidung über das Asylgesuch.

Afghanistan ist ein Land am Rande des Abgrunds. Millionen Geflüchtete sind der Beweis. Abgesehen von Worten unternimmt Europa nicht viel, um ihnen zu helfen.

Wichtig wäre, dass die Schweiz in Zukunft grosszügige und humane Entscheidungen trifft und die traditionellen Rechtsgrundsätze geflüchteter Personen stärkt.

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